Im Jahre 1907 hatte man sich entschlossen, die Schnitger-Orgel, die weit über 200 Jahre ihren Dienst getan hatte, durch ein neues Instrument zu ersetzen. Wenn es auch aus heutiger Sicht ein herber Verlust ist, so muß man die einstigen Entscheidungsträger doch verstehen, die sich eine moderne und den damaligen Klangidealen entsprechende Orgel anschaffen wollten. Die heute noch erhaltenen Schnitger-Orgeln (z.B. in Dorum) sind wahre Meisterwerke der Orgelbaukunst des 17. Jahrhunderts. Anderenorts blieben diese Orgeln nur erhalten, weil kein Geld für einen Neubau vorhanden war, doch hatte für Lamstedt der „Zuckerkönig“ Claus Spreckels aus Amerika einen beachtlichen Geldbetrag zur Verfügung gestellt, so daß eine neue Orgel angeschafft werden konnte. Die alte Orgel versuchte man gegen Erstattung von Abbaukosten und des Materialwertes der Metallpfeifen und des Holzes (angesehen als Brennholz) an eine „orgelbedürftige Gemeinde“ zu verkaufen, was jedoch nicht gelang. Nicht einmal ein Museum in Stade, das den Orgelprospekt (der von außen sichtbare Teil der Orgel) als sehr wertvoll angesehen hatte, wollte den Betrag aufbringen. So verschwand dann ein Meisterwerk norddeutscher Orgelbaukunst in der Schmelze (Pfeifen) beziehungsweise auf dem Kirchenboden und wurde vermutlich später verheizt.
Die neue Orgel war auch wiederum ein ausgezeichnetes Instrument, das von Röver - Haus Neindorf gebaut worden war. Es wurde mit der damals modernen Technik der pneumatischen Traktur (Einrichtung, die über verschiedene Wege vom Tastenanschlag zum Ton führt) erstellt. Diese Orgel wurde durch sorgfältige Pflege lange Zeit spielfähig gehalten. Erst im Jahre 1940 begann ihr Niedergang. Die Orgelbauer, welche die Orgel bisher gepflegt und gestimmt hatten, waren allesamt zu den Waffen gerufen worden, so daß deren Firma, die notwendigen Arbeiten nicht mehr ausführen konnte. So unterblieb dann die Pflege bis zum Jahr 1947.
Nach Kriegsende sollten nun doch endlich Reinigungs- und Stimmarbeiten an der Orgel durchgeführt werden, die noch von der alten pflegenden Firma ausgeführt wurden. 1947 wechselte man dann den Orgelbauer, der die Orgel später auch einer Generalinstandsetzung unterziehen sollte.
Den Krieg hatte die Röver-Orgel noch unbeschadet überstanden. Zwar erfolgte - wie bei allen anderen Kirchen auch - im Jahr 1944 eine Anfrage der „Reichsstelle Eisen und Metalle“, das Metallpfeifenmaterial wurde jedoch in Gruppe C eingestuft, d.h. diese Teile sollten nur im Bedarfsfalle unter Erhaltung der Spielbarkeit entfernt werden. Die Begründung dafür war, daß unsere damalige Orgel das letzte erhaltene Röver-Werk in dieser Gegend war. (Nordleda scheint weit genug entfernt gewesen zu sein.) (Dagegen war eine Taufschale schon einige Jahre früher in die Altmetallsammlung gegeben worden, aber die nicht unbeträchtliche Menge an Metall in der Orgel konnte man doch so retten.) Eine Randbemerkung sei noch erlaubt: Der Meldebogen wurde entweder absichtlich oder versehentlich nicht ganz zutreffend ausgefüllt. Auf die Frage der Traktur war mit „mechanisch“ geantwortet worden, die Ventile zu den Pfeifen sollen also über Drähte bedient worden sein. Tatsächlich lag aber eine pneumatische Traktur vor, mittels Druckluft, die über Metallrohre geführt wurde, erfolgte die Steuerung. Entsprechend viel Metall muß in der Orgel vorhanden gewesen sein, was eben in mechanischen Werken nicht vorlag.
Der neu engagierte Hamburger Orgelbauer kassierte auch zunächst eine Anzahlung und begann verabredungsgemäß mit dem Ausbau einiger Pfeifen zur Überholung in seiner Werkstatt. Dies geschah noch im Jahr 1948 zu Reichsmark-Zeiten, und entsprechend erfolgten Zahlungen in Reichsmark. Bei der Währungsreform 1948 kam nun der Orgelbauer in finanzielle Schwierigkeiten. Er bot aber der Kirchengemeinde an, einen Teil des RM-Betrages anzurechnen und gegen Zahlung eines DM-Betrages seine Arbeit fortzuführen. Wenige Pfeifenreihen stellte er um, aber insgesamt zwölf vollständige Register mit ungefähr 600 Pfeifen waren nach seinen anfänglichen Maßnahmen von ihm abtransportiert worden. Nach einiger Zeit forderte er weitere Geldbeträge. Dabei nutzte er die Gutmütigkeit eines Pastors aus, so daß sogar ein Schuldanerkenntnis von diesem unterschrieben worden war, um - wie der Orgelbauer ausführte - weitere Materialien anschaffen zu können. Eine sachverständige Aufsicht über seine Arbeiten gab es allerdings nicht.
So geschah es dann, daß diese Pfeifen nie wieder in der Lamstedter Kirche zu sehen waren. Der Orgelbauer war mit ihnen „durchgebrannt“. Man mutmaßte sogar, daß er sie in einer katholischen Kirche wieder eingebaut habe. Dieser Fall ist allerdings nie aufgeklärt worden, Die Orgelbaufirma ging noch während dieser Zeit in Konkurs, so daß der großzügige Orgelumbau ein Orgelraubbau blieb. Die Orgel besaß danach nur noch 14 nutzbare von ehemals 28 Registern. Während dieser Umbauten wurden auch Verzierungen, die am Orgelgehäuse angebracht waren, entfernt.
Die gerupfte Orgel sollte dann ab 1955 wiederhergestellt werden. Zunächst war an eine Wiederherstellung - wie zur Zeit der Währungsreform geplant - gedacht worden, der Plan mit kleinen Umbauten zur Klangverbesserung sollte durchgeführt werden. Auf Bestreben des Landeskirchenamtes sollte jedoch die pneumatische Traktur (s.o.) durch eine mechanische ersetzt werden, da man befürchtete, die alte Traktur würde bald wieder ausfallen. Dieser Wunsch führte zu einschneidenden Veränderungen, ja fast zu einem Neubau der Orgel, denn die Traktur ist - viel weniger als das Gehäuse - ein sehr zentraler Teil der Orgel. Wiederverwendet wurde bei diesem Umbau nur das Pfeifenmaterial, welches natürlich noch durch Neuanfertigungen ergänzt wurde. Die von Spreckels gestiftete Orgel wurde also nicht vollständig aus der Kirche entfernt, das noch vorhandene Pfeifenmaterial wurde vielmehr wiederverwendet.
So ist es dann durchaus gerechtfertigt, daß die Firma Röver nicht mehr am heutigen Gehäuse nicht mehr erwähnt wird, es ist nur noch das Firmenemblem des Orgelbauers E. Kemper zu finden. Hielt man die Orgel direkt nach Fertigstellung - wie fast bei jedem Um- oder Neubau - für ein großartiges Werk, so stellen sich inzwischen wieder größere Fehler ein. Nach einer Begutachtung, die vor wenigen Jahren erstellt wurde, sind beim Umbau vor 40 Jahren Fehler begangen worden, die sich heute nachteilig auf die Bespielbarkeit auswirken. Auch sind manche verwendete Teile nicht so dauerhaft, wie die Teile unserer ersten (Schnitger-) Orgel, die über 200 Jahre ihren Dienst versehen hat.
Im Jahr 1999 ist dann die Orgel teilweise saniert worden, nachdem durch die Heizungserneuerung in der Kirche zunächst dafür die Voraussetzungen geschaffen worden sind. Wirklich grundlegende Veränderungen in der Anlage der Orgel - wie sie teilweise vorher geplant worden waren - sind dabei nicht vorgenommen worden. Wir werden sehen, wie sich die Orgel weiter entwickeln wird.